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35 Jahre Mauerfall | SCRIPTS-Forschende reflektieren über den Einfluss des Mauerfalls auf ihr Forschungsfeld

Reste der Berliner Mauer © Claudio Schwarz / Unsplash

Reste der Berliner Mauer © Claudio Schwarz / Unsplash

Mit dem Fall der Berliner Mauer verkündeten einige den „Sieg des Liberalismus“. 35 Jahre später stehen liberale Gesellschaftsmodelle weltweit unter Druck.

News from Nov 22, 2024

Anlässlich des 35. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer reflektieren Wissenschaftler*innen von SCRIPTS, wie dieses Ereignis ihr Forschungsfeld beeinflusst hat und wie die Auswirkungen die Welt bis heute prägen.

Zwei Fragen sind bei der Reflexion zentral: Wie hat der Mauerfall das eigene Forschungsfeld beeinflusst? Und welche Effekte sind bis heute spürbar?

 

SCRIPTS Principal Investigator und Seniorprofessor für Internationale Politik, Prof. Dr. Thomas Risse, betont, dass die liberale Ordnung nach wie vor tief umstritten ist: „Nach dem Ende des Kalten Krieges meinten viele, jetzt habe das liberale Script endgültig gesiegt. 35 Jahre später wissen wir, dass die liberale internationale Ordnung zwar nach wie vor dominiert, aber zugleich tief umstritten ist. Diese Ordnung wird sowohl innerhalb liberaler Gesellschaften durch (rechtsgerichtete) populistische Strömungen herausgefordert als auch außerhalb durch autoritäre Regime sowie durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten.“ 

 

Für Dr. Kriszta Kovacs, die im Bereich der Wissenschaftsfreiheit forscht, bedeutet das historische Ereignis folgendes: „Geboren und aufgewachsen hinter dem ‚eisernen Vorhang‘ in Ungarn, bedeutete der Fall der Berliner Mauer für mich Freiheit für Mitteleuropa, darunter für mein Land, und auch für mich: Ich konnte meine Menschenrechte ausüben. Als Forscherin, die sich auf Verfassungsrecht spezialisiert hat, finde ich es nun besonders wichtig, diese Freiheit zu schützen.“

 

Prof. Dr. Steffen Mau, Principal Investigator und Professor für Makrosoziologie, antwortet zunächst aus einer persönlichen Perspektive: „Ohne den Mauerfall hätte ich nicht Soziologie studieren können. Heute beschäftigen mich vor allem Fragen des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Transformation, darunter der Übergang von Diktatur zu Demokratie und von der Plan- zur Marktwirtschaft samt ihren langfristigen Folgen.“

 

Principal Investigator und Professorin für Soziologie, Prof. Dr. Katharina Bluhm, verweist in ihrer Antwort auf eine grundlegende Veränderung der sozialwissenschaftlichen Forschung: 

„Der Mauerfall hat in den Sozialwissenschaften ein völlig neues Forschungsfeld – die Transformation der Länder des Ostblocks in die Marktwirtschaft gebracht. Diese war in Deutschland der 1990er-Jahre auf den Einigungsprozess fokussiert. Die Transformationsforschung fungierte zugleich als Auffangbecken für ostdeutsche Sozialwissenschaftler*innen aus den abgewickelten Akademien und anderen Instituten. Oft stellte sich das für sie als Sackgasse heraus.

Auf die Forschung zu Osteuropa und Russland hatte der Mauerfall einen ambivalenten Effekt. Auf der einen Seite war es nun möglich, empirische Forschung im großen Umfang in den Ländern selbst zu betreiben. Auf der anderen Seite erfolgte insbesondere in den Sozialwissenschaften ein massiver Abbau von Forschungs- und Lehrkapazitäten, weil die traditionelle ‚Area Studies‘ aus der Zeit gefallen schien.

Der Schrumpfungsprozess hat sich über die 2000er-Jahre fortgesetzt und dazu beigetragen, dass gerade in diesen Disziplinen die Osteuropakompetenz in Deutschland stark zurückgegangen ist."

 

Prof. Dr. Alexander LibmanProfessor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland, reflektiert über die Auswirkungen des Mauerfalls auf den personellen Bestand der Russlandforschung: „Der Mauerfall leitete eine Blütezeit in der sozialwissenschaftlichen Russlandforschung ein. Zwar gab es weniger Forscher*innen, die sich mit Russland beschäftigt haben, als während des Kalten Krieges; doch sie konnten eine rigorose und methodologisch fortgeschrittene Forschung betreiben, die etwa im Mainstream der Politikwissenschaft volle Anerkennung gefunden hat. Umso bedauerlicher ist es, dass die Blütezeit der Russlandforschung nach dem Februar 2022 vorbei ist – die Zukunft bleibt ungewiss.“

Alice Trinkle, Wissenschaftlerin in der Nachwuchsgruppe Peripheral Liberalism, analysiert den Fall der Mauer als Ausgangspunkt für ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel: „Der Mauerfall symbolisiert im Kontext meiner Forschung einen Kipppunkt in einem gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungsprozess. Die Entwicklungen im liberalsten Land des Ostblocks, Ungarn, trugen maßgeblich zum Mauerfall bei. Ich erforsche chinesisch-ungarische Austauschprozesse zu marktwirtschaftlichen Reformen vor und nach 1989. In diesen Ländern nahm marktwirtschaftliches Denken und Handeln und gesellschaftliche Liberalisierung bereits lang vor 1989 Fahrt auf mit äußerst unterschiedlichem Ausgang in den 1990ern: Der Machtverfestigung der kommunistischen Partei Chinas und der damaligen rasanten Demokratisierung Ungarns.“

 

Für Julian Heide, welcher im Bereich Makrosoziologie forscht, sind die heute immer noch präsenten Unterschied in Ost- und West-Deutschland zentral: „Die Umrisse der DDR sind auf der politischen Landkarte Deutschlands noch immer zu erkennen. Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall unterscheiden sich manche Einstellungen und Mentalitäten in Ost und West. Für mich als Einstellungsforscher sind und bleiben deutsch-deutsche Unterschiede daher ein spannendes Forschungsfeld."

 

Einige dieser Reflexionen wurden bereits im Rahmen der SCRIPTS-Schwerpunktwoche der BUA-Kampagne „Das Offene Wissenslabor“ auf den Social-Media-Kanälen veröffentlicht. Entdecken Sie mehr über die Kampagne auf der BUA-Website.

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