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Russlands Invasion der Ukraine: Eine Anfechtung des liberalen Skripts? - № 4: Russischer Frühling und neue Eiszeit

von Katharina Bluhm

Der „russische Frühling“ wurde 2014 als Antwort auf den Euro-Maidan ausgerufen und sollte die Ostukraine gegen Kiew mobilisieren. Damals scheute Putin noch vor einer offenen militärischen Invasion zurück und entschied sich nach einigem Zögern für das Minsker Abkommen und für einen halbeingefrorenen, schwelenden Konflikt. Das Abkommen verlangt nach der Kremlinterpretation das Abhalten von Wahlen in Luhansk und Donezk unter separatistischer Führung. Gleichzeitig erhielt die Regierung in Kiew nicht die Hoheit über die ukrainischen Grenzen zu Russland zurück. Diese für die Ukraine unannehmbare Implikation führte in eine Sackgasse. Es waren die letzten ernsthaften Verhandlungen, bei denen die Europäer mit Putin an einem Tisch saßen. Auch der einst als Hoffnungsträger angetretene Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte aus dem Dilemma keinen Ausweg finden. 2019 schrieb die Ukraine den Wunsch auf NATO-Beitritt in ihre Verfassung. Die Bemühungen des Westens in den vergangenen Wochen um eine friedliche Verhandlungslösung, ohne grundsätzlich die Präsenz der NATO in Osteuropa in Frage zu stellen und damit ohne auf Putins Kernforderung einzugehen, sind gescheitert.

Tritt Europa in eine "neue Eiszeit" der post-sowjetischen Ordnung ein?

Tritt Europa in eine "neue Eiszeit" der post-sowjetischen Ordnung ein?
Image Credit: Jilbert Ebrahimi on Unsplash

In der Ukraine herrscht nun Krieg, nicht der Erste in Europa seit 1989, aber der für die europäische Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges entscheidende. Das Land braucht unsere Solidarität und Unterstützung. Russlands Invasion hat das Lavieren der Westeuropäer zwischen NATO-Beitritt und EU-Annäherung einerseits und dem Versuch, die Kooperationsbeziehungen mit Russland aufrechtzuerhalten, beendet. Die politischen Lager sortieren sich vor allem in Deutschland unter einem gewaltigen Handlungsdruck neu. Noch immer aber rätselt die Welt, warum Putin jetzt zum Angriff blies. Viele politische Gründe sind genannt: das Schwächeln Bidens und Selenskyjs, der Regierungswechsel in Deutschland und die Zerschlagung jeglicher Ansätze einer echten organisierten Opposition in Russland. Putins Image im Westen hat sich mit einem Schlag vom klugen und skrupellosen Machtpragmatiker zum Psychopathen gewandelt. Beide Deutungen fokussieren jedoch zu sehr auf die Persönlichkeit Putins; sie unterschätzen die Bedeutung von Ideologie und die großrussische Logik der Macht, die die Ukraine und Belarus als Teil des „historischen Russlands“ betrachtet. Im Folgenden möchte ich einige weitergehende Überlegungen zum Verständnis der neuen historischen Situation unterbreiten.

Geopolitik und Geoökonomie

Dass es sich bei Russlands Krieg um einen aggressiven Akt der Revision der unter der Dominanz der USA hergestellten post-sowjetischen Ordnung in Europa handelt, bestreitet kaum jemand mehr. Zu bewahrheiten scheint sich auch der Eindruck, dass Putin und die „russischen Patrioten“ in eine selbst gestellte Falle tappen. Indem sie die ukrainische Führung seit 2014 permanent mit Rechtsextremen und Nazis vergleichen, widerlegen sie sich durch den unerwarteten Widerstand der Ukrainer selbst. Bei dieser Geschichtsfalle handelt es sich aber nicht nur um ein Produkt der russischen Propagandamaschinerie. Sie hängt auch eng mit dem Aufstieg einer neuen „mission civilsatrice“ zusammen, die Russland als eine eigenständige Zivilisation definiert, welche weder zum Westen noch zum Osten gehört. Diese Idee hat sich Putin zu eigen gemacht. Von daher rührt das Interesse des KGB-Agenten für Geschichte und Geschichtspolitik. Aber die Konstruktion der russischen Zivilisationsidentität resultiert aus einem langen diskursiven Prozess, der Ende der 1990er Jahre einsetzte. Heute gehört sie zum offiziellen Kanon, mit dem die politische Klasse ihre Regime-Loyalität bekundet.

Am 24.02.2022 betont der Vorsitzende der Duma Wolodin auf einer Kuba-Reise, dass die „Spezialoperation“ ausschließlich der „Verteidigung des Friedens“ gegen die von der NATO und Brüssel gesteuerten „Okkupanten“ der Ukraine diene. Am gleichen Tag trat der erste Stellvertreter des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten Nikonow vor die Kamera von Rossija 24 und erinnerte an die Worte seines Großvaters Molotow am Kriegsbeginn Nazideutschlands gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941: „Unsere Sache ist gerecht. Der Feind wird geschlagen“. Beide gelten seit langem als illiberale konservative Ideologen. Wolodin beschwört, dass Ukrainer und Russen „ein Volk“ sind – „eine Kultur“ und „ein Glaube“, und er stellt klar: Das „strategische Ziel“ Russlands sei seit langem bekannt gewesen. „Wir brauchen eine friedliche, freie, souveräne Ukraine, die sich in freundschaftlichen Beziehungen zu Russland befindet.“

Dieses „wir brauchen“ hat jedoch nicht nur eine identitäre und geopolitische, sondern auch eine geoökonomische Dimension, die die Ordnung von großen Wirtschaftsräumen betrifft. Ein Gedanke, der im westlichen Rätseln darüber, was „will Putin“, selten vorkommt, für die russische Elite aber selbstverständlich ist. Ohne Belarus und ohne die Ukraine – so die verbreitete Überzeugung – kann sich keine erfolgreiche Eurasische Union entwickeln, die seit 2012 in Planung war und 2015 gegründet wurde. Die russische Führung weiß, dass ihr Großmachtstatus auf tönernen Füßen steht, wenn er sich allein auf das Militär verlassen muss und nicht auch aus einer großen Wirtschaftsmacht erwächst. Deshalb hat die Schaffung eines eurasischen Wirtschaftsraums zwischen Europa und Asien, der von der Marktgröße mit anderen Wirtschaftszentren mithalten kann, eine besondere Dringlichkeit. Für diese Größe bedarf es Industriepotential und demographischen Zuwachs, da Russlands Bevölkerung massiv schrumpft.

Es geht also bei der Ukraine wie schon bei Belarus keineswegs um eine schlichte Restauration der Sowjetunion oder gar des zaristischen Russlands, sondern um Russlands zukünftige Rolle in der Welt – einer Welt, in der sich China anschickt, die globalen Spielregeln zu verändern. In diesem Szenario positionieren die russischen Eliten ihr Land wieder als anti-liberale Macht, mit einem Mitbestimmungsanspruch für ganz Europa. „Restauration der Zukunft“ hieß der Titel eines der vielen anti-westlichen, konservativen Manifeste in den 2000er Jahren.

Auch wenn es in der EU und den USA momentan kaum jemand hören mag, das Desaster war nicht von Anfang an vordeterminiert. Wir sollten uns eingestehen, dass das Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Ukraine zu dieser Entwicklung beitrug. Es stand in unmittelbarer Konkurrenz zum eurasischen Integrationsprojekt EAWU, da es die Angleichung von Normen und Standards verlangte und außerdem eine vertiefte Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen vorsah. Dabei war die europäische Beitrittsperspektive für diese Länder äußerst ungewiss. Putin ist ideologisch allerdings ein großrussischer Nationalist und kein Eurasier. Sein Interesse an der EAWU ließ nach 2014 merklich nach. Dennoch geht es bei der Ukraine – wie schon bei Belarus – nicht nur um politische und militärische Kontrolle, sondern auch um die Integration in einen Wirtschaftsraum, der im globalen Wettbewerb ein eigenes machtvolles Zentrum bildet. Das durchzusetzen, rechtfertigt offenbar den Einsatz von Gewalt. Sie soll den gordischen Knoten der letzten acht Jahre durchschlagen. Es kümmert Putin und die „russischen Patrioten“ erstaunlich wenig, dass sich eine solche Gewalt in das historische Gedächtnis der Völker einbrennt.

Putin konnte zwar nicht damit rechnen, dass der zweite „russische Frühling“ beim heimischen Publikum einen ähnlichen Enthusiasmus auslöst wie die Annexion der Krim. Wohl aber konnte er damit kalkulieren, dass die Bevölkerung nach acht Jahren Konflikt im Donbass und dessen propagandistischer Verarbeitung einer Anerkennung von DNP und LNP zustimmen wird. Laut dem Umfrageinstitut WTsIOM unterstützten vor Kriegsbeginn 73 % der Befragten in Russland die Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden selbsternannten Republiken, 78 % befürworten die Unterzeichnung des Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit.[1] Eine Umfrage des Lewada-Zentrums vom 17. und 21. Februar 2022 nuanciert indes dieses Bild. Laut Lewada, ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut, das das Justizministerium als „ausländischer Agent“ führt, stieg im Vergleich zu vorherigen Befragungen der Anteil derjenigen, die eine negative Einstellung zur Ukraine haben, von 43 % der Befragten im November 2021 auf eine 52 %. 60 % der Befragten glauben, dass die USA und die NATO-Länder die Verschärfung der Lage in der Ostukraine ausgelöst haben. Vor der offiziellen Entscheidung über den Status der Volksrepubliken waren jedoch nur 33 % der Befragten der Ansicht, dass die DNR und die LNR unabhängige Staaten werden sollten, lediglich 25 % glaubten, dass Russland sie aufnehmen sollte.[2] Von der Eroberung der ganzen Ukraine oder Krieg war weder bei dem Parlamentsbeschluss noch bei Umfragen die Rede. „Krieg“ selbst wurde aus dem Wortschatz der Medien gestrichen. Je länger er jedoch andauert und je größer die Opferzahlen werden, umso weniger lässt sich verdrängen, dass die Russ:innen Putin keine Lizenz für einen Krieg gegen die Ukraine erteilt haben.

Westliche Sanktionsoptionen und ihre Grenzen

Das westliche Bündnis reagierte 2014 mit Sanktionen und muss nun wieder zu diesem Instrument greifen, wenn es nicht gegen Russland in den Krieg ziehen will. Dies konnte sich Putin vorher ausrechnen. Aber offenbar erschien ihm das Risiko kalkulierbar, obgleich Russlands seit zehn Jahren ein durchschnittlich geringes Wirtschaftswachstum verzeichnet, und die Inflation mit über acht Prozent wieder einen Höchststand erreicht hat, während der Lebensstandard stagniert, zum Teil sogar sinkt. Was könnte angesichts dieser Situation bei der Kalkulation eine Rolle gespielt haben, abgesehen von Putins Erwartung eines leichten Sieges über die „Nazi-Okkupanten“?

Zu rechnen war mit neuen personenbezogenen Sanktionen, die Elitemitglieder um ihre Besitztümer in Westeuropa bringt. Aber selbst wenn es gelänge, die Familien- und Freundeskreise der Sanktionierten umfassend einzubeziehen und alle Vermögen tatsächlich einzufrieren, musste Putin keine Elitenrevolte befürchten. Im Gegenteil, diese Sanktionen treiben die politische Klasse und die politisch entmachteten „Oligarchen“ nur immer weiter in die Abhängigkeit des engen Machtzirkels, der zentrale staatliche Ressourcen kontrolliert. Schon seit längerem unternimmt die russische Regierung, Versuche einer Re-Nationalisierung der Eliten und der Beseitigung von russischen Offshore-Zentren im Ausland, die vor allem in der EU und in London liegen. Bereits seit 2013 ist es Staatsbeamten und politischen Funktionären auf Föderationsebene nicht mehr erlaubt, ausländische Konten bei Banken zu führen, die keine Niederlassung in Russland haben. Seit der Verfassung von 2020 dürfen sie keine doppelte Staatsbürgerschaft oder ausländische Aufenthaltstitel besitzen. Zudem führte die russische Regierung schon mehrfach Kampagnen gegen die Offshore-Konten russischer Unternehmen und Privatpersonen in Luxemburg, auf Zypern oder in der Londoner City durch, wenn auch halbherzig und bisher nicht mit großem Erfolg. Die Regierung verhandelt Doppelsteuerabkommen neu oder kündigte sie, wenn es dazu keine Bereitschaft gab, wie mit den Niederlanden. Seit 2021 verstärkt die russische Regierung die Kontrolle über die Geldüberweisungen aller russischen Staatsbürger aus dem Ausland und versucht den blühenden russischen Markt der Kryptowährungen unter Kontrolle zu bringen. Einige anti-westliche Ökonomen hoffen darauf, dass die Sanktionen nun endlich den gigantischen Kapitalabfluss aus Russland stoppen, den Putin bisher nicht bereit und in der Lage war zu beenden. „Die Menschen beobachten mit Interesse die Rückkehr des von den Oligarchen exportierten Kapitals ins Land und der Oligarchen selbst, die eine Beschlagnahmung und Verhaftung in den NATO-Ländern befürchten“ – frohlockt der bekannte, anti-westliche Ökonom Sergei Glasjew.[3]

Im Hinblick auf die Wirtschaftssanktionen muss man zunächst bedenken, dass Russland in zwei zentralen Punkten autark ist. Das betrifft zum einen die Energieversorgung, zum anderen aber die Ernährungssicherheit, die seit 2006 ganz oben auf der Agenda der nationalen Sicherheitsstrategie stand. Befördert durch die russischen Gegensanktionen gegen die Sanktionen des Westens nach 2014 lancierte die Regierung ein umfangreiches Programm zur Importsubstitution. Obgleich die erhofften großen Sprünge ausblieben, feierte vor allem ein Sektor – die Agrarproduktion – Erfolge. Russland kann sich bei wichtigen Grundnahrungsmitteln anders als in den 1990er und 2000er Jahren selbst versorgen. Importe von Geflügel und Fleisch sind fast komplett ersetzt. Zudem konnte es seinen Export von Agrargütern, insbesondere von Weizen, erheblich steigern. Mehr noch, steigende Weltmarktpreise und die brennende Frage der Ernährung der Weltbevölkerung lassen hier die Aussichten weiterhin vielversprechend erscheinen.

Auch auf einen teilweisen Ausschluss aus dem globalen Finanzmarkt fühlte sich Russlands Machtelite vorbereitet. Zu den Traumata der 1990er Jahre, die Putin stark geprägt haben, gehört die Hyperinflation. Deshalb hatte bisher die makroökonomische Stabilität in der russischen Geldpolitik eine sehr hohe Priorität und wurde dem Setzen von Wachstumsimpulsen durch die Bereitstellung von günstigen Krediten an die Realwirtschaft vorgezogen. Die Russländische Föderation hatte zudem die Staatsschulden der gesamten Sowjetunion übernommen, die durch Kreditaufnahmen insbesondere beim IWF im Verlaufe der 1990er Jahre sich immer weiter erhöhten. Für Putin spielt die „finanzielle Souveränität“ gegenüber ausländischen Gläubigern, (aber auch gegenüber privaten inländischen Gläubigern) eine große Rolle. Darin besteht der Hauptgrund, warum Russlands Staatsverschuldung ungewöhnlich niedrig ist. Sie liegt – nach zögerlichen Steigerungen seit 2018 – bei 18 % des BIP, 80 % davon bei inländischen Gläubigern. Ein Verbot westlicher Staaten an ihren Finanzmärkten, russische Staatsanleihen zu kaufen, schreckte daher wenig. Die Staatskonzerne und „loyalen Oligarchen“, die sich auf dem internationalen Finanzmarkt bedient haben, sind zudem schon seit der globalen Finanzmarktkrise in hohem Maße vom russischen Staat abhängig. Versperrt der Westen den Zugang zum globalen Finanzmarkt, so vergrößert sich diese Abhängigkeit, zumal Ausweichversuche auf den chinesischen Aktienmarkt bisher nur zögerlich angegangen werden.

Hinzu kommt: Selbst während der Covid-Pandemie hat die Notenbank den Nationale Reservefonds weiter aufgefüllt und verfügt über internationale Währungsreserven, die nach eigenen Angaben einen Rekordstand Ende Januar 2022 von über 630 Milliarden Dollar erreicht haben. Geringere Reserven hatten es Russland bereits ermöglicht, die schweren Folgen der globalen Finanzmarktkrise 2008/9 aus eigener Kraft zu überwinden. Dieses Krisenmanagement scheint auch in die Putinsche Kalkulation 2022 eingegangen zu sein. Zusammen mit einer restriktiven Haushaltspolitik fühlte man sich offenbar gewappnet, die harten Sanktionen des Westens zumindest für eine Zeit abfedern zu können. Die Möglichkeit des Einfrierens der Konten der Zentralbanken in den westlichen Ländern scheint hier keine Berücksichtigung gefunden zu haben. Schließlich glaubt man, mit China einen potenten Geldgeber im Hintergrund zu haben, der Liquiditätsengpässe des Staates und der russischen Konzerne ausgleichen könnte. Die radikale Erhöhung der Leitzinsen von bereits hohen 9,5 % auf 20 %, –dem üblichen Instrument der russischen Zentralbank, um die Inflation zu bekämpfen – trifft die gesamte Wirtschaft. Die Hauptlast bei den Unternehmen tragen aber wieder die russländischen Klein- und Mittelbetriebe, die keine speziellen Zugänge zu staatlichen Fonds haben. Sie haben ohnehin wenig „Voice“ im Putin'schen Wirtschaftssystem.

Die russische Notenbank hat auf die ersten Drohungen des Westens nach der Krim-Annexion, Russland aus dem SWIFT-Zahlungssystem auszuschließen, reagiert. Sie baute ein eigenes System der elektronischen Nachrichtenübermittlung zwischen Banken (BFMS) und ein nationales Kartenzahlungssystem „Mir“ (Welt) auf, über das alle Auszahlungen von Staatspensionen und -gehälter laufen müssen. An einer Verbindung mit dem chinesischen Zahlungssystem wird gearbeitet, um daraus ein grenzüberschreitendes System zu machen. Russische Experten spielen durch, was der Ausschluss aus SWIFT unter anderem für den Energieexport bedeuten würde und vermuten, dass die Europäer dann ihre Importe in Rubel abwickeln würden – ein willkommener Nebeneffekt der erklärten „Dedollarisierung“ der globalen Wirtschaft, die die russische Regierung seit einigen Jahren als „toxische Währung“ betrachtet. Ein kompletter Ausschluss Russlands aus SWIFT mit Sitz in Brüssel würde zudem den europäischen Finanzplatz und europäische Firmen im Handel mit Russland weiter schwächen. Der nun gewählte gezielte Ausschluss wichtiger russischer Banken aus SWIFT dürfte von Putins Strategen ebenso wenig vorhergesehen worden sein wie das Verbot für die westlichen Banken, Einkäufe aus den internationalen Währungsreserven der russischen Notenbank zu bedienen. Ob sich die Hoffnung auf ein alternatives transnationales Zahlungssystem mit China erfüllen, bleibt abzuwarten.

Drohungen von westlicher Seite, nicht mehr in die russische Wirtschaft zu investieren, werden von „russischen Patrioten“ dagegen als lächerlich abgetan. Denn Russland ist bisher ein Netto-Geber auf dem globalen Finanzmarkt. Das Gros der europäischen Direktinvestitionen nach Russland stammt aus Zypern, Luxemburg und Großbritannien. Es handelt sich also eigentlich Geldrückflüsse nach Russland. Bleibt also die Keule des Entzugs moderner Hochtechnologien. Sie zeigt sicher Wirkung. Aber was dies mittel- und langfristig bedeutet, lässt sich derzeit schwer abschätzen. Vieles hängt von der Bereitschaft der asiatischen Staaten ab, sich an der Durchsetzung der westlichen Sanktionen zu beteiligen. Putin hat offenbar darauf spekuliert, dass sich genügend andere Wege finden lassen, den Bedarf an Hochtechnologie aus dem Ausland zu decken. Ohnehin will man die Wertschöpfung für dieses Segment im eigenen Land erhöhen, um der „digitalen Souveränität“ einen ökonomischen Unterbau zu verleihen. Taiwan, der wichtigste Hersteller von Mikrochips der Welt, hat sich bereits den amerikanischen Sanktionen angeschlossen, was wenig verwunderlich ist. Entscheidend wird sein, wie sich Indien und vor allem China verhalten. Mit Indien hat die russische Regierung einen Militär- und Technologievertrag bis 2031 abgeschlossen; erst im Dezember 2021 reiste Putin nach Delhi gereist, um weitere Handels- und andere Verträge zu unterzeichnen, darunter 28 Investitionspakte. Aber Indien, das sich aus Sowjetzeiten mit Russland verbunden fühlt, hat sich in den letzten Jahren den USA angenähert, um Chinas Ansprüche in Asien zu begegnen.

Bleibt also China. Die um 2015 gepflegte große Hoffnung der russischen Elite in den neuen strategischen Partner China und auf die Wachstumsmärkte in Asien, ist zwar einer gewissen Ernüchterung gewichen. Und man sieht durchaus die Gefahr, lediglich ein „Juniorpartner“ zu sein, nachdem man diese Rolle gegenüber den USA ausgeschlagen hat. Doch sind in den letzten Jahren wichtige Schritte getan worden, um diese Partnerschaft voranzutreiben. Talkshows im russischen Fernsehen spekulieren im Zusammenhang mit der Ukraine über das Schicksal Taiwans und damit auf ähnliche Ambitionen, die „Nation“ zu einen. Je mehr Bomben auf Kiew fallen, umso unglücklicher dürfte China über seinen neuen „Juniorpartner“ werden. Auch die Drohung mit einem atomaren Erstschlag dürfte eher irritieren. Es stellt sich heraus, dass die heutige russische Führung eher ideologiegetrieben ist, als langfristige strategische Fähigkeiten auszubilden.

Sicher aber ist vor allem eines, dass es Putin nicht schaffen wird, in der Ukraine eine ähnlich tödliche Ruhe einkehren zu lassen, wie sie Lukaschenko so bereitwillig in Belarus organisiert hat. Die kampferprobte Ukraine wird keine Ruhe geben. Eher hat Putin das Ende seiner Herrschaft beschleunigt.


[1] https://ria.ru/20220223/nezavisimost-1774536048.html; zuletzt besucht am 28.02.2022.

[2] https://www.levada.ru/category/press/; zuletzt besucht am 28.02.2022.

[3] https://expert.ru/2022/02/25/sanktsii-i-suverenitet-column/; zuletzt besucht am 28.02.2022.

Dieser Blog-Eintrag wurde zuletzt am 01. März 2022, 10:45 Uhr MEZ bearbeitet. Zur englischen Version.

Prof. Dr. Katharina Bluhm ist Principal Investigator bei SCRIPTS, Leiterin des Instituts für Osteuropastudien und Professorin für Soziologie am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.